«Zubehör wird plötzlich zum EKG des Schaltschranks»
Funktionalität von Stromversorgung im Zeitalter von Industrie 4.0
«Zubehör wird plötzlich zum EKG des Schaltschranks»
Funktionalität von Stromversorgung im Zeitalter von Industrie 4.0
Wie hat Industrie 4.0 die Funktionalität von Stromversorgungen verändert und was bedeutet das Auslaufen der Norm EN 60950-1 zum Ende des Jahres 2020? Technik und Wissen hat hierzu vier Experten befragt.
Autor: Markus Back
Thomas Ritter: «Die Digitalisierung verändert die Industrie. Flexiblere Produktion, erhöhte Produktivität sowie die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle – all dies ist bereits möglich dank des Einsatzes digitaler Technologien. Für uns heisst das, trotz steigendem Energiebedarf, effizientere Stromversorgungen zu bauen. Wenn alles digitalisiert ist, muss auch die Stromversorgung über eine Schnittstelle erreicht und überwacht werden können. Die Qualität und Ausfallsicherheit ist dabei ebenfalls ein grosses Thema. Denn ohne Energie ist auch Industrie 4.0 nicht möglich.»
Udo Huneke, Murrelektronik: «Industrie 4.0 hat unsere Produkte in vielerlei Hinsicht beeinflusst. Dabei wurde im Allgemeinen der lange eingeschlagene Weg der Murrelektronik, den Kunden Informationen über Geräte im Betrieb zu liefern, weiter verstärkt. Dies hat auch dazu geführt, dass dezentrale Spannungsversorgungen mit einer zusätzlichen IO-Link-Schnittstelle ausgestattet worden sind, also Kommunikation direkt im Netzgerät.»
Hartmut Henkel, Phoenix Contact: «Industrie 4.0 krempelt unser Produktprogramm komplett um und darüber freuen wir uns. Technologiewandel stellt immer eine grosse Chance für innovative Unternehmen dar. Aus dem Zubehörartikel Stromversorgung wird plötzlich das EKG des Schaltschranks. Der Kunde spricht mit seiner Stromversorgung, fragt Daten ab, parametriert sie und erkennt Anomalien. Die Stromversorgung ist ihrerseits in der Lage, mit Verbrauchern und dem Energieverteilungssystem zu kommunizieren. Das eröffnet ungeahnte Möglichkeiten.»
Daniel Gottardo, Weidmüller: «Netzteile und Lastüberwachung sind über eine Busschnittstelle kommunikativ geworden. Unser Stromversorgung Protop lässt sich mit einem nachrüstbaren Kommunikationsmodul (I/O-Link, CAN) für die Anforderungen von morgen rüsten. Die Retrofit-Lösung wird einfach auf die Stromversorgung gesteckt und ermöglicht die Weitergabe von Prozessdaten an die übergeordnete Steuerung. Dadurch ist diese mit anderen Komponenten der Anlage vernetzt. Sie ist fernsteuerbar und in das Condition-Monitoring-System einer Anlage eingebunden.»
Thomas Ritter, CL-Electronics: «Den Vorteil sehe ich in der Überwachung und Steuerung der Stromversorgung über eine Schnittstelle. Hierbei gibt es verschiedene Lösungen, die natürlich mit dem Kunden und seiner Anwendung abgesprochen werden müssen.»
Udo Huneke, Murrelektronik: «Eine intelligente Stromversorgung bringt diverse Vorteile. So lässt sich nicht nur die Ausgangsspannung einstellen, sondern es werden alle Ausgänge über elektronische Überstromschutzeinrichtungen überwacht und die angeschlossenen Leitungen geschützt. Da sich die dezentrale Spannungsversorgung ja nicht mehr direkt im Blickfeld des Anwenders befindet, kann über eine Schnittstelle auf diese zugegriffen werden. Dies erlaubt sogar abgeschaltete Kanäle zurückzusetzen oder das Gerät aus der Ferne zu konfigurieren. Egal, wo und wie die Stromversorgung verbaut ist, sie bleibt im Zugriff und Blick des Anwenders. Das bringt einen ganz neuen Freiheitsgrad in der Installation.»
Hartmut Henkel, Phoenix Contact: «Gerade die Erkennung von Anomalien eröffnet grosse Möglichkeiten. Zum einen stellt die Stromversorgung fest, dass sie sich plötzlich anders verhält als zuvor. Das kann zum Beispiel daran liegen, dass ein Kugellager festgefressen ist und der Antrieb daher mehr Strom benötigt, um eine Welle zu bewegen. Beim nächsten Serviceeinsatz lässt sich das Lager in Stand setzen, sodass Stillstandzeiten vermieden werden. Zum anderen kann die Stromversorgung detektieren, dass sie sich anders verhält als vergleichbare Geräte in ähnlichen Applikationen. Diese Schwarmintelligenz gibt wichtige Hinweise darauf, dass die Umgebungsbedingungen dieser Maschine ungewöhnlich sind.
Von einer Leitwarte aus kann man sich nun auf die Stromversorgung aufschalten und genaue Daten auslesen. Das elektronische Typenschild erteilt beispielsweise Aufschluss darüber, ob überhaupt das richtige Gerät am richtigen Platz verbaut wurde. Die Parameterdaten zeigen an, ob das Gerät korrekt eingestellt ist und die Betriebsdatenerkennung informiert über Einsatzdauer, Gerätetemperatur und den Verlauf von Ausgangsstrom und -spannung. Ohne in der Anlage gewesen zu sein, kann ein Fachmann auf Basis dieser Daten wesentliche Rückschlüsse ziehen, einen gezielten Service vorbereiten oder bestenfalls die Anlage von der Ferne aus wieder in Gang setzen.»
Daniel Gottardo, Weidmüller: «Kommunikationsfähige Komponenten sind die Basis einer vernetzten Produktion, mit der sich das Potenzial von Industrie 4.0 ausschöpfen lässt. Mit ihnen können Produkt- und zustandsorientierte Daten sowie maschineninterne Messwerte und Energieparameter erfasst und in einer Cloud gesammelt werden. Auf Basis der ausgewerteten Daten lassen sich neuartige Dienste zur Optimierung und Diagnose von Produktionsprozessen oder für das Energiemanagement aufbauen. Daher sind eine möglichst schnelle Vernetzung aller Geräte sowie deren Anbindung an eine Cloud anzustreben.»
Thomas Ritter, CL-Electronics: «Am 20. Dezember 2020 ist es soweit. Die neuen Sicherheitsnormen auf Basis von IEC 62368-1 lösen weltweit bestehende Normen ab. Zur Vereinfachung für Produktverkäufer haben die Regulierungsbehörden in den USA und der EU beschlossen, das Datum zu harmonisieren. Obwohl bei der 62368-1 weniger vorgeschrieben wird und sie für Designer flexibler sein soll, ist das Ziel dieser Vereinheitlichung, dass Endbenutzer sicherere Produkte erhalten. Wie immer ist eine grosse Menge an Informationen zu verdauen, damit die eingesetzten Produkte konform sind. Leider ist es nicht ganz so einfach. Als erstes sollten sich Anwender die Frage stellen, in welchen Anwendungen, Branchen, Märkten und Ländern sich ihre Produkte bewegen? Falls diese noch nicht angefangen haben, sollten sie sich jetzt die Zeit dazu nehmen und sich mit der Thematik befassen.»
Udo Huneke, Murrelektronik: «Die Einführung der EN 62368-1 verbindet als Nachfolgenorm die EN 60950-1 für Informationstechnologie und die EN 60065 für Audio-/Videogeräte. Die EN 60950-1 war bisher in vielen Bereichen quasi als Standard für Stromversorgungen akzeptiert. Als Anwender sollte man den Einsatzfall der Stromversorgung betrachten. Im ZVEI Leitfaden werden viele Fälle und die relevanten Normen dafür aufgeführt. Es ist zu empfehlen, die passenden Normen für den Einsatzfall heranzuziehen und entsprechende Geräte zu verwenden. Ansonsten kann es von erheblichen Diskussionsbedarf bis hin zu aufwendigen Änderungen der Anlage führen und in der Folge zu Kosten, falls eine Inbetriebnahme deshalb nicht akzeptiert wird.»
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Hartmut Henkel, Phoenix Contact: «Die EN 62368-1 verbindet die Bereiche Informationstechnologie (EN 60950-1) mit denen von Audio- und Videogeräten (EN 60065). Sie legt ein besonderes Augenmerk auf die gefahrenbasierte Sicherheitstechnik. Die in den USA gebräuchliche Norm UL 508 für Stromversorgungen wurde hingegen durch die UL 61010-2-201 abgelöst. Diese ist in die IEC 61010-2-201 überführt worden, deren Anforderungen eher auf den Einsatz im industriellen Umfeld abzielen und die daher für die Zulassung unserer Produkte bevorzugt wird.»
Schwerpunktthema Stromversorgung im Printmagazin Ausgabe #009-2020
Erfahren Sie exklusiv und nur in der in der Printausgabe #009 von Technik und Wissen, welche Schutzmassnahmen unsere Experten empfehlen, um Kurzzeitunterbrechungen zu kompensieren und wie dezentrale Konzepte die Energieversorgung verändern.
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Impressum
Autor: Markus Back
Bildquelle:diverse
Publiziert von Technik und Wissen
Informationen
CL-Electronics GmbH
www.cl-electronics.com
Murrelektronik GmbH
www.murrelektronik.ch
Phoenix Contact AG
www.phoenixcontact.ch
Weidmüller Schweiz AG
www.weidmueller.ch
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