Warum existiert das Problem «Nachwuchsmangel»?
Swissmechanic: Zunächst einmal gibt es einen Nachwuchsmangel allein aufgrund der demografischen Entwicklung. Die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer kommen ins Rentenalter und gleichzeitig ist der Bevölkerungsanteil von Personen im Alter bis 19 Jahren rückläufig. Ferner haben die Gymnasien und weiterführenden Schulen in der Tendenz Zulauf, während die traditionelle Lehre vermehrt unter Druck gerät. Das führt in vielen Berufen, unter anderem auch in der MEM-Branche, zu einem Wettkampf um die besten Talente.
HSLU: Es besteht ein genereller Wettbewerb um Talente, das Nachwuchsproblem ist nicht auf die MINT-Berufe beschränkt. Ausserdem gelingt es nach wie vor nicht oder nur zu wenig, junge Frauen für MINT-Berufe zu begeistern. Damit ist ein grosses Potenzial nicht ausgeschöpft. Die «Vorbilder» und «Beeinflusser» in der Entscheidungsphase für die Berufswahl haben oft eine zu grosse Distanz zu den MINT-Themen – und gesamtgesellschaftlich ist eine Skepsis gegenüber der Technik und ihren Entwicklungen zu beobachten. Paradoxerweise werden allerdings trotzdem hohe Erwartungen in die Technik gesetzt, wenn es zum Beispiel um die Bewältigung der Klimakrise geht.
SATW: Der bereits seit längerem bestehende Fachkräftemangel deutet darauf hin, dass sich Jugendliche offenbar nicht genügend für MINT-Fächer beziehungsweise MINT-Berufe interessieren. Es stellt sich unweigerlich die Frage, wann und warum dieses Interesse – gerade bei Mädchen – vielfach verloren geht und mit welchen Massnahmen das Interesse allenfalls erhalten oder wieder geweckt werden könnte. Unser MINT-Nachwuchsbarometer zeigt folgendes auf:
Vielfalt der Technik: Jugendliche sind sich der Vielfalt von Technik häufig nicht bewusst. Dadurch kennen sie die unterschiedlichen Berufsfelder wenig oder häufig gar nicht.
Selbstkompetenz: Die Ausbildung von technischen Studien- und Berufsrichtungen gilt als schwierig. Daher entscheiden sich vor allem Knaben und Mädchen mit einer hohen Selbstkompetenz für einen solchen Beruf. Gerade Mädchen trauen sich einen solchen Beruf aber oft nicht zu.
Schule und Familie fördern das Interesse an Technik wenig. Technik ist nicht im Lehrplan verankert oder wird im Zusammenhang von anderen Fächern behandelt. Technik braucht aber eine separate Förderung. Lehrer trauen sich technische Fächer häufig nicht zu oder sie gelten als aufwendige Unterrichtsfächer.
Schlüsselerlebnisse: Es gibt nur wenige Schlüsselerlebnisse in den Schulen und Familien. Diese sind aber besonders wichtig, damit diese prägend wirken.
Vorbilder: Väter werden häufig als Vorbilder genannt. Weibliche Vorbilder werden nur wenige genannt.
Berufsbilder: technische Berufe gelten als Männerberufe.
FHNW: Die MINT-Fächer gelten bei Jugendlichen und ihren Angehörigen als schwierig und mühsam und die dazugehörigen Berufe werden oft nicht sehr attraktiv dargestellt.
BFH: Das Image von klassischen technischen Berufen ist sicher kein Vorteil. Dieses Image sieht etwa so aus: «männliche Berufe», etwas für «Tüftler und Nerds», «Arbeit hat wenig mit Menschen zu tun», «schmutziges, lärmiges Umfeld in grossen Industriehallen».
Die Perspektiven von technischen Berufslehren fehlen oft für Personen, die eine technische Berufslehre ohne weitere Qualifikation gemacht haben. So wird die Lehre einfach zum «Durchlauferhitzer» für ein Ingenieurstudium.
Und auch wenn die Gehälter für technische Fachleute sich nicht im Niedriglohnbereich angesiedelt sind, bieten andere Berufe – wie Informatik oder kaufmännische Berufe mit zusätzlichen Qualifikationen – zum Teil weit höhere Gehaltsperspektiven. Und schliesslich ist da eine starke Betonung von in der Schule erworbenen Kompetenzen in Mathematik für die Besetzung von Lehrstellen. Das schreckt einige ab, die sich in schulischer Mathematik nicht sicher fühlen.
SNF: Auf Forschungsebene ist kein genereller Nachwuchsmangel in den MINT-Disziplinen feststellbar. Beim Schweizerischen Nationalfonds (SNF) werden ähnlich viele Gesuche eingereicht wie in den anderen grossen Forschungsbereichen – den Geistes- und Sozialwissenschaften respektive den Lebenswissenschaften. Auffallend ist jedoch die deutlich geringere Vertretung von Forscherinnen in gewissen MINT-Disziplinen. Der SNF fördert zum Beispiel circa 4700 Doktorierende, davon etwa 45% aus den MINT-Disziplinen. Von diesen 45% sind jedoch nur knapp ein Drittel Frauen.
Über Nachwuchsmangel in technischen und naturwissenschaftlichen Berufen wird seit Jahren gesprochen und wurde als eines der kritischen Wachstumshindernisse erkannt. Frage also:
Warum kann man das Problem des Nachwuchsmangels nicht schnell(er) lösen?
Swissmechanic: Der Hauptgrund ist sicherlich, dass es weniger Jugendliche gibt, welche von der Volksschule kommen und sich für diese Berufe interessieren. Diese Tatsache kann nicht so leicht «schnell behoben» werden. Es ist aber klar, dass sich die betroffenen Branchen noch stärker anstrengen müssen, um ihre Berufe für die Jugendlichen (wieder) attraktiver zu machen. Natürlich sind auch die Verbände und Branchenorganisationen gefordert: Sie müssen die Betriebe gezielt unterstützen und dazu motivieren, in die Aus- und Weiterbildung zu investieren. Das ist eine Herkulesaufgabe, vor allem in wirtschaftlich angespannten Zeiten. Denn wenn die Betriebe ohnehin schon unter Druck stehen und ihre Kosten senken müssen, dann werden zusätzliche Investitionen in die Aus- und Weiterbildung auch schon mal in Frage gestellt.
HSLU: Die grossen Themen wie Rollenbilder für beide Geschlechter oder die Rolle der Technik bei gesellschaftlichen Problemen lassen sich nicht schnell verändern. Es braucht ein langjähriges Engagement, welches bereits im Kindergarten beginnt.
Swissmem: Es gibt dafür viele Gründe. Sicherlich spielt die Demografie eine Rolle, es gibt also einen Überschuss an Lehrstellen, aber es kommen die geburtenschwachen Jahrgänge. Dann schaffen auch nicht alle das Anforderungsprofil. «Die schulische Anforderungen ist nicht erfüllt» wird von Swissmem-Unternehmen als häufigster Grund für die Nichtvergabe von Lehrstellen genannt. Auch die gesellschaftliche Wahrnehmung und damit das Image der Branche spielt eine Rolle und es herrscht sicher eher ein konsumorientierter Zugang zur Technik. Das heisst, technische Güter erlauben immer weniger den Blick ins Innere, die Technik ist verborgen und somit «unnahbar».
SATW: Gerade im Zusammenhang mit Gender und MINT-Berufen gibt es schöne Studie. Sie zeigt, dass der Anteil von Frauen in den MINT-Berufen in tiefer entwickelten Ländern viel höher ist als in höher entwickelten Ländern. Stoet und Geary begründet dies damit, dass jenen Ländern sich mehr Mädchen für ein technische Ausbildung entscheiden – und somit nach Männerberufen streben –, um ihre soziale Stellung zu verbessern. In höher entwickelten Ländern fehlt den Mädchen diese Motivation. Es gilt daher der Grundsatz: Je mehr Chancengleichheit für Mann und Frau da ist, desto weniger wahrscheinlich ist es, dass Mädchen eine technische Richtung einschlagen.
Obwohl es nicht wissenschaftlich belegt ist und die obige Aussage nur für Frauen zutrifft, kann man sich gut vorstellen, dass dies teilweise auch allgemein gilt. Das Studium von Ingenieurwissenschaften gilt als schwierig. Dies könnte auch Männer davon abhalten, dies zu studieren.
FHNW: Bei der Wahl eines Berufes spielt das gesellschaftliche «Mindset» eine wichtige Rolle. Massnahmen, um dieses «Mindset» zu verändern, brauchen viel Zeit.
BFH: Imageveränderungen dauern sehr lange. Ausserdem steht einem aufwändigen Studium mit hoher beruflicher Verantwortung eine vergleichsweise unspektakuläre gesellschaftliche Reputation gegenüber.
Einem aufwändigen Studium mit hoher beruflicher Verantwortung steht eine vergleichsweise unspektakuläre gesellschaftliche Reputation gegenüber.
MINT-Berufe sind zukunftsträchtig und doch nicht attraktiv: Was steckt hinter diesem Paradoxon?
Swissmechanic: Die Berufe sind zu wenig fassbar und es ist schwierig, sie einer breiten Öffentlichkeit zu erklären. Wir benötigen noch vermehrt öffentliche Plattformen wie zum Beispiel Berufsmeisterschaften, damit uns dies gelingt. Leider werden MINT-Berufe noch immer mit verstaubten und schmutzigen Werkstätten und alten Maschinen in Verbindung gebracht. Dieses Image stimmt jedoch definitiv nicht mehr.
HSLU: Es sind zahlreiche neue Tätigkeiten und Berufe entstanden in den MINT-Gebieten. Während der Berufswahl orientieren sich Jugendliche stark in ihrem direkten Umfeld, wo diese neuen Möglichkeiten oft zu wenig bekannt sind.
Den Technik- und Informatik-Berufen haftet zudem noch immer ein falsches «nerdiges» Image an. Tatsächlich erfordern diese Berufe ein hohes Mass an Kreativität und Teamfähigkeit.
Swissmem: Das produzierende Gewerbe bezahlt grundsätzlich gute Löhne, die Einkommen liegen in anderen Branchen aber teilweise höher. Ausserdem sind die Zukunftsfähigkeit und die Vielfältigkeit oft zu wenig bekannt.
FHNW: Viele MINT-Berufe konzentrieren sich zu sehr auf die Anforderungen des Berufs und zu wenig auf die kreativen Elemente und das Ergebnis des Berufs. Die MINT-Förderung muss deshalb so früh wie möglich zeigen, was das Potential eines MINT-Berufes ist.
Welche Lösungsansätze haben sich als erfolgreich erwiesen, um junge Leute zu begeistern für MINT-Berufe?
Swissmechanic: Tüftlerworkshops, Auftritte an Berufsmeisterschaften wie SwissSkills oder WorldSkills, kurze und knackige Videosequenzen, die die Berufe und die Menschen in diesen Berufen vorstellen.
HSLU: Am erfolgversprechendsten ist es, wenn wir junge Schülerinnen und Schüler auf dem Campus haben und mit ihnen konkrete Projekte durchführen können. Wenn die Schüler und Schülerinnen verstehen, was wir machen, nimmt ihnen dies die «Angst» vor der Technik. Das gleiche gilt auch für die Beeinflusser: Je besser wir der Öffentlichkeit aufzeigen können, wie unsere Arbeit beim Lösen gesellschaftlicher Probleme hilft, umso eher gelingt es, die Skepsis der Technik gegenüber abzubauen.
Swissmem: Es geht eher über «kreative Technikvermittlung», welche das Selbstkonzept der Kinder und Jugendlichen verändert wie es zum Beispiel bei explore-it angewandt wird. Auch eine Vermittlung der Sinnhaftigkeit der einzelnen Berufe ist wichtig und daher sind auch Initiativen und Seiten wie tecindustry.ch entstanden.
Was können Firmen tun, um die Berufe attraktiver zu gestalten?
Swissmechanic: Sie sollten zunächst einmal offen sein für Neues. Entscheidend ist, dass den betrieblichen Berufsbildnern genug Zeit für eine gute, seriöse Ausbildung gegeben wird. Wir empfehlen den Betrieben auch, sich mit den örtlichen Volksschulen und Berufsberatungen zu vernetzen. Und das Wichtigste: Die Betriebe müssen ihre Ausbildungsqualität hochhalten und stetig optimieren.
HSLU: Sie können den Lernenden die Berufsmatura während der Lehre ermöglichen, flexible Arbeitszeitmodelle anbieten und Tage der offenen Türen.
Swissmem: Sie müssen attraktive Ausbildungen anbieten, wozu sicher auch gehört, dass sie selbst moderne Techniken anbieten können. Eine Talentförderungen sollte ebenfalls betreiben werden. Es hat sich auch gezeigt, dass es gut ist, Schulen, Eltern und überhaupt der Gesellschaft Einblicke ins eigene Werk zu geben und auch mitzuwirken bei gemeinschaftlichen Aktivitäten.
SATW: Viele Firmen sind sich ihrer Verantwortung bewusst. Allerdings könnten noch folgende Punkte verstärkt betrachtet werden: Mehr Lehrstellen, flexible Ausbildungsgänge, welche auch die Bedürfnisse der Firmen berücksichtigen, ein wertschätzendes und familienfreundliches Arbeitsklima und man muss dringend auch die Aufstiegsmöglichkeiten aufzeigen.
FHNW: Für Firmen kann es sich auszahlen, mit Schulen zusammenzuspannen. Unternehmensbesuche sowie Partnerschaften mit Hochschulen sind sicher auch wichtig und dass man versuchen soll, die ganze Familie zu involvieren, wenn die Gelegenheit sich ergibt.
BFH: Das Arbeiten in diversen heterogenen Teams kommt gut an. Sowieso soll ein frauenfreundlicheres Umfeld in den Betrieben geschaffen werden, sonst steigen die wenigen Frauen, die sich für einen technischen Beruf entschieden haben, bald wieder aus.