Wir machen Industrie 4.0!

Experten raten: Räumen Sie zuerst auf.

Wir machen Industrie 4.0!

Experten raten: Räumen Sie zuerst auf.

Industrie 4.0 kann zu einem Komplexitätszuwachs führen. Wenn man aber wie der Künstler Ursus Wehrli bei seinem Projekt «Kunst aufräumen» vorgeht, behält man den Überblick. (Bild: «Morphologischen Analyse» – Sondermarke à 1.00 Franken, Quelle: Post)

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Industrie 4.0 muss nicht mehr erklärt werden. Oder doch? Am besten rätselt man dann nicht um die allgemeine Definition, sondern stellt sich gleich diese Frage: Was bedeutet Industrie 4.0 für das eigene Unternehmen? Und wer schon von Losgrösse 1 träumt, dann bitte die Frage nach der Komplexität nicht vergessen. Und da lautet die einfachste Lösung: her mit dem morphologischen Kasten!


Autor: Eugen Albisser


Definitionsfragen haben es in sich. Sie lassen uns resignieren oder optimistisch werden. Je nachdem, ob man mannigfaltige, pluralistische und dialektische Antworten mag. Denn nicht immer gibt ein Nachschlagewerk eine befriedigende Antwort auf die Frage «Was ist …?», sondern man gelangt erst über die Zwischenfrage «Was etwas ist, definiert sich erst dadurch, was man damit machen will» zur befriedigenderen Antwort. Und diese kann entsprechend vielfältig sein. Auf diese Weise muss auch jedes Unternehmen die Frage nach einer Definition von Industrie 4.0 individuell für sich beantworten: «Was wollen wir damit machen und erreichen?»

«Perspektiven mit Industrie 4.0»

Prof. Dr. Christoph Heitz, Präsident der Swiss Alliance for Data Intensive Services und Professor an der ZHAW, hat über diesen Unterschied nachgedacht und seine Erkenntnisse in einem Vortrag an der ZHAW bei der Konferenz «Perspektiven mit Industrie 4.0» vorgetragen. Und er hat mit der Frage nach dem individuellen Firmenbedürfnis bereits beim Einstieg in den Vortrag «Industrie 4.0: Die Stunde der Innovatoren» jene entmutigt, die noch immer auf eine universell anwendbare Lösung hoffen. Die gibt es nicht. Aber es gibt durchaus Beispiele, welche die Kreativität anregen.

«Innovativ sein» ist offensichtlich nicht so trivial

Airbnb ist ein solches Beispiel – das einige zwar nicht mehr hören können, aber der interessante Punkt ist offensichtlich, dass man sich zu solchen Musterbeispielen diverse Fragen selber stellen kann. Eine der interessantesten: «Wenn Sie sich nun ein wenig zurücklehnen und eine solche Plattform entwickeln müssten, wie denken Sie, würde diese schlussendlich aussehen?», fragt Professor Christoph Heitz. «Genau: so wie Airbnb. Es ist eine Lösung, die genauso aussieht, wie man sie sich wünscht.»

Airbnb wurde 2008 gegründet; doch man hätte die Plattform auch bereits im Jahr 2000 erfinden können. Alle Technologien gab es da schon. Warum dauerte es so lange? «Es ist nicht Rocket Science. Und dennoch hat es hat acht Jahre gedauert, bis jemand kam und die Plattform erstellte. Offensichtlich ist es doch nicht so trivial, wenn man innovativ sein will», sagt Heitz.

Von Airbnb lernen

Was kann man von Airbnb lernen? Kurzvideo mit einer Analyse dazu. (Quelle: Youtube-Kanal Startup Xpress)

Industrie 4.0 ist eher die Beschreibung einer Phase

Dennoch gibt es auf der Suche nach Industrie-4.0-Innovationen ein paar feste Pfeiler, auf die man bauen kann. Schon fast ein Mantra dürfte sein: Die Lösung wird neu sein. «Sie wird noch nie dagewesen sein, wenn es eine wirkliche Innovation sein soll. Sie werden etwas Neues erfinden und Industrie 4.0 ist weniger eine Beschreibung eines Dinges, sondern die Beschreibung einer Phase. Denn das Neue passiert nicht im luftleeren Raum und basiert nicht auf Zufall», ist Heitz überzeugt. Die Innovation wird auf drei Elementen basieren. Die Rohstoffe sind vorhanden: die Daten. Und diese werden immer mehr. Denn diese sind unsere Zukunft.

Das Internet der Dinge und seine Entwicklung

 

Daten, Daten, Daten. Und dies aus rund 30 Milliarden Geräten derzeit und 50 Milliarden Geräten im Jahr 2020. Doch damit ist es noch nicht getan: All diese Geräte liefern zwar Daten, aber inzwischen hat die Forschung und die Industrie auch gelernt, die Daten zu analysieren und daraus etwas Sinnvolles herauszuholen.

Und dies ist das zweite Element: Hilfsmittel wie deterministische Algorithmen und statische Datenanalyse. Noch werden Algorithmen mehrheitlich eingesetzt, doch die statische Datenanalyse, oder allgemein die Künstliche Intelligenz (KI), ist auf dem Vormarsch. Wie weit die KI bereits ist, zeigt immer wieder IBMs Watson.

Bereits im Jahr 2010 schlug Watson im Spiel Jeopardy seine menschlichen Kontrahenten.

Der komplette Showdown zwischen Watson und Miles

Miles vs. Watson: The Complete Man Against Machine Showdown

Dritte Grundlage: die Vernetzung

Und das dritte Element, so Christoph Heitz, sei die Vernetzung: «Sie können heute von überall zu jeder Zeit und beinahe ohne Kosten auf Daten zugreifen. Diese Welt gab es vor 15 Jahren noch nicht, und das sind drei Elemente, die dafür verantwortlich sind, dass wir Dinge machen können, die wir zuvor nie machen konnten. Das ist ein riesiger Raum für Innovationen, der gefüllt werden will mit Produkten.»

Anlaufstellen für Industrie 4.0 in der Schweiz

Dass trotz diesen drei vorhandenen und allen Firmen zugänglichen Grundlagen für Industrie-4.0-Innovationen insbesondere KMU aber auf Unterstützung angewiesen sind, das steht ausser Frage. Christoph Heitz: «Man könnte das auch alleine machen, aber es zeigt sich, dass dieser Weg zu lange dauert. Und anderseits stehen auch in der Schweiz bereits Anlaufstellen zur Verfügung, die über ein grosses Knowhow in vielen Bereichen verfügen.» Zu diesen Anlaufstellen zählen unter anderem die Plattform Industrie 2025, die ZHAW-Plattform Industrie 4.0, die ETHZ und die Swiss Alliance for Data-Intensive Services oder die KTI.

Adieu Komfortzone

Hilfe kann also überall geholt werden und für Prof. Dr. Christoph Heitz ist es wichtig, dass Firmen nicht warten, bis sie verstanden haben, was Industrie 4.0 genau ist. Professor Heitz: «Wir müssen uns alle aus der Komfortzone bewegen. Wir brauchen Kompetenzen, die wir heute noch nicht haben und die man vielleicht erst nach dem ersten oder zweiten Projekt benennen kann. Das braucht Mut, aber es ist äusserst fraglich, ob Firmen ohne Industrie 4.0 in fünf Jahren noch auf dem Markt sind.»

Industrie 2025

Der Begriff Industrie 4.0 bezeichnet das Konzept, welches die Transformation der Industrie hin zur Digitalisierung- und Vernetzung der Wertschöpfungsnetzwerke ermöglicht. Der Name «Industrie 2025» bezeichnet die Schweizer Initiative.

industrie2025.ch

 

Plattform Industrie 4.0

Die erfolgreiche Umsetzung neuer Geschäftsmodelle erfordert Kompetenzen aus verschiedenen Fachbereichen. Die ZHAW School of Engineering hat deshalb ihre Expertise im Bereich Industrie 4.0 gebündelt und kombiniert Know-how auf verschiedenen Gebieten zu einer ganzheitlichen Anwendung. 

zhaw.ch

 

Inspire

Die Inspire AG ist als strategischer Partner der ETH Zürich das führende Schweizer Kompetenzzentrum für den Technologietransfer zur MEM–Industrie.

inspire.ethz.ch

 

Swiss Data Alliance

Die Swiss Data Alliance ist ein überparteilicher Zusammenschluss von Unternehmen, Wirtschaftsverbänden, zivilgesellschaftlichen Organisationen, Forschungsinstitutionen und Einzelpersonen.

swissdataalliance.ch

 

Swiss Alliance for Data-Intensive Services

Ein schweizweites Innovationsbündnis aus Hochschulen und Unternehmen aus Industrie und Wirtschaft.

https://www.data-service-alliance.ch/

 

KTI

Die Kommission für Technologie und Innovation ist die Förderagentur für Innovation des Bundes. Sie ist zuständig für die Förderung wissenschaftsbasierter Innovationen in der Schweiz durch finanzielle Mittel, professionelle Beratung und Netzwerke.

kti.admin.ch

Wie sollen wir umgehen mit der Komplexität von Industrie 4.0? Diese grosse Frage beschäftigt Wolfgang Merz, CTO von Wagner Industrial Solutions. Die Firma Wagner kommt aus einem traditionellen Geschäft, aber vor zwei Jahren hat sich das Unternehmen eine komplett neue Strategie erdacht.

 

Beim Umsetzen dieser neuen Strategie musste sich die Geschäftsleitung die Frage stellen: Wie transformieren wir eine Organisation so, dass sie möglichst breit abgeholt werden kann für die Belange von Industrie 4.0?
«Wir haben sehr viele Definitionen gefunden, aber auch bemerkt, dass wir den Wechsel so vorantreiben wollten, indem wir möglichst viel von der Organisation mitnehmen», sagt Wolfgang Merz. Das Ziel war schnell klar: Losgrösse 1 für die industrielle Produktion – was einem Wachstum im Produktportfolio gleichkommt – mit Datenanalyse Mehrwert schaffen und dann selbstoptimierende Systeme entwickeln.

Komplexitätszuwachs verhindern

Doch wie schafft man einen solchen Wandel, ohne dass es zu einem Komplexitätszuwachs kommt, den man nicht mehr beherrschen kann? Wolfgang Merz hat eine einfache Antwort: Indem man sich beim Künstler Ursus Wehrli inspirieren lässt. «Kunst aufräumen» heisst es nämlich bei ihm und er zeigt damit immer wieder - wie auch auf der Briefmarke der Post (Auftaktbild) -, dass Kunst zwar komplex sein kann, aber dass sie durchaus auch «aufräumbar» ist.

Wir lernen von Ursus Wehrli: Wenn einer Kunst vom Komplexen in die Simplizität führen kann, dann dürfte das systematische Ordnen in anderen Bereichen ebenfalls gelingen – und uns eine andere Perspektive auf das Resultat geben.

Die heuristische Kreativitätstechnik des Astrophysikers Fritz Zwicky

Glücklicherweise hat es noch einen Schweizer gegeben mit einem monströsen Ordnungssinn: der Astrophysiker Fritz Zwicky (1898 - 1974). Zwicky eröffnete mit seiner heuristischen Kreativitätstechnik eine Methode, die sogar etwas besser passt zum Umgang mit der Reduktion von Komplexitäten bei der Einführung von Industrie 4.0 als «Kunst aufzuräumen».

Eine mehrdimensionale Matrix bildet bei Zwicky die Grundlage für eine morphologische Analyse. Dieser so genannte morphologische Kasten hat auch bei der Firma Wagner Klarheit darüber gegeben, wie sie die Produktvariation hochhalten und dennoch mit Losgrösse 1 produzieren können, ohne in einen Komplexitätszuwachs zu rutschen.

Wolfgang Merz: «Ich habe Ihnen einmal ein Beispiel von einer Datenmenge mitgebracht, die relativ komplex aussieht.»

Grundlage der Morphologischen Analyse. (Grafik: Didi Kälin, Technik und Wissen)

«Wenn wir dies aber jetzt verschieben, sehen wir schnell, da kommen Muster darin vor, verschiedene Formen und aus diesen Farben und Formen im Rahmen können wir eine morphologische Struktur bauen, indem wir zuerst einmal Ausprägungen identifizieren. Allein mit diesen zwei Dimensionen erhalten wir eine komplette Übersicht und aus vier Merkmalen und je drei Ausprägungen haben wir bereits 81 verschiedene Produktvarianten.»

In 5 Schritten zum morphologischen Kasten

  1. Problem formulieren
  2. Parameter (Ausprägungen) bestimmen und in die Tabelle eintragen (in Spalte eintragen)
  3. Für jeden Parameter werden wesentliche Parameterausprägungen gesucht (auf Zeilen verteilen) und bereits unmögliche Ausprägungen ausschliessen, indem diese Felder markiert werden. Allerdings ist man häufig überrascht, was alles möglich ist, wenn man sich mit den Möglichkeiten auseinandersetzt (z.B. Tisch mit null Beinen? An der Decke aufhängen).
  4. Relevante Kombinationen von Parameterausprägungen suchen und mit Linien verbinden.
  5. Lösungen analysieren und bewerten

«Statt also wie üblich beim nächsten Produkt die Kundensegmente anzuschauen, die Märkte zu beschreiben, ein Lasten- und ein Pflichtenheft zu führen und dann ein Produkt zu realisieren», sagt Wolfgang Merz, «nehmen Sie ein Blatt zur Hand, versehen Ihre Kunden mit Merkmalen, beschreiben die möglichen Ausprägungen und Sie werden überrascht sein, wie viele relevante Merkmale Sie finden, um Ihre Kunden zu beschreiben.»

Relevante Kombination im morphologischen Kasten finden

 Es werden jedenfalls weniger sein als gedacht. Fünf bis zehn werden reichen. Das Vorgehen mittels morphologischen Kastens hat weiter den Vorteil, dass man fast zwangsweise eine Standardisierung der Produkte erreicht. Und es erleichtert eine spätere Produktergänzung erheblich. «Sie müssen nun einfach entweder den morphologischen Kasten erweitern oder Sie geben im morphologischen Kasten einfach eine andere Lösung ein – und schon können Sie weitere Märkte erschliessen.»


Entstehungsgeschichte dieses Artikels

Dieser Artikel entstand aufgrund zweier Vorträge an der ZHAW bei der Konferenz «Perspektiven mit Industrie 4.0». Die Vorträge: «Industrie 4.0: Die Stunde der Innovatoren» von Prof. Dr. Christoph Heitz, Präsident Swiss Alliance for Data Intensive Services und «Wie können KMU in der Komplexität der Industrie 4.0 das Wachstum optimieren?» von Wolfgang Merz, CTO bei J. Wagner.


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