Vergessen Sie lineare Charts. Die Zukunft verhält sich wie heisses Öl in einem Topf Mais. Der Futurist Lars Thomsen erklärt, warum wir den «Plopp» nicht hören, bevor es zu spät ist. Er zeigt aber auf, warum ausgerechnet die langsame Schweiz das Betriebssystem für eine hyper-schnelle Welt liefern könnte.
Es gibt diesen einen Moment in der Küche, der alles erklärt. Das Öl ist heiss, doch die Maiskörner liegen noch ruhig in der Pfanne. Das Thermometer klettert auf 150 Grad. Es erreicht 160 und schliesslich 170 Grad. Nichts passiert. Es ist ein linearer Anstieg. Er wirkt langweilig und berechenbar. Wer jetzt auf die Uhr schaut und denkt, dass das noch dauert, macht den klassischen Fehler des menschlichen Gehirns. Er denkt linear in einer exponentiellen Welt. Denn bei 180 Grad ändert das Wasser im Korn seinen Aggregatzustand. Es wird zu Dampf. Der Druck sprengt die Hülle.
Lars Thomsen, Gründer der Denkfabrik Future Matters, steht auf der Bühne der Pädagogischen Hochschule Zürich und beschreibt diesen Moment mit lautmalerischer Präzision: «Nee, das geht jetzt exponentiell. Pop, Pop, Pop, Pop, Pop [...] und innerhalb von wenigen Sekunden poppen alle.»
Sein Publikum besteht aus 150 Ingenieuren der Fachgruppe Elektronik (FAEL). Sie sind es gewohnt, in Kurven und Tabellen zu denken. Doch Thomsen warnt. Wir stehen technologisch bei 179 Grad. Die Ruhe vor dem Sturm ist trügerisch. In den nächsten zehn Jahren werden sich unser Verständnis von Arbeit, Energie und Maschinen nicht nur verändern. Es wird sich auflösen und neu zusammensetzen. Schon sein Vater, ein Bauingenieur alter Schule, pflegte am Abendbrottisch zu sagen: «Luftschlösser bauen, das können viele, jetzt müssen wir uns hinsetzen und das Ganze mal durchrechnen.» Genau das ist der Auftrag für die nächste Dekade.
Das Ende der digitalen Dummheit
Wer heute einen Computer bedient, ist eigentlich ein Sklave der Maschine. Wir tippen auf Tastaturen. Wir klicken durch Menüs. Wir lernen die Logik von Excel. Thomsen provoziert mit einer steilen These: «Irgendwann kommt künstliche Intelligenz, und mit der künstlichen Intelligenz kommt das Ende der Dummheit.» Er meint damit nicht uns. Er meint die Geräte, die uns heute zwingen, uns ihrer begrenzten Logik anzupassen.
Der erste «Popcorn-Moment» ist der Tod der Eingabemaske. Zwischen 2026 und 2029 transformiert sich Künstliche Intelligenz von einem Werkzeug zu einer «symbiotischen Intelligenz». Sie wird zur Ambient Intelligence. Das ist eine unsichtbare Schicht, die den Raum füllt. In Thomsens Vision tippt der Ingenieur keine E-Mails mehr. Er führt einen Dialog. Er hat einen «Buddy» im System, der nicht nur zuhört, sondern versteht.
Für die Schweizer Wirtschaft ist das der ultimative Hebel. Wenn wir nicht mehr wachsen können, weil uns die Menschen ausgehen, müssen wir die verbleibenden Menschen zu Superhelden machen. Thomsen nennt sie «Augmented Engineers». Dank KI-Ko-Piloten haben diese am Montagnachmittag die Arbeit einer ganzen Woche erledigt.
Hardware is eating Software
Das Silicon Valley streitet noch über Chatbots. Die physische Welt bereitet sich derweil auf ihren «iPhone-Moment» vor. Es geht um die Robotik. Thomsens These ist steil. Der Markt für humanoide Roboter wird grösser werden als die gesamte Automobilindustrie. Warum jetzt? Weil Roboter nicht mehr programmiert werden müssen. Sie lernen.
An der ETH Zürich sperrt man Roboter über Nacht in einen Raum. Am nächsten Morgen können sie laufen. Sie haben es durch «Reinforcement Learning» gelernt, quasi durch digitales Schmerzempfinden. Doch hier lauert die Chance für den Werkplatz Schweiz. Fast niemand hat sie auf dem Radar. Ein humanoider Roboter besteht aus 80 Freiheitsgraden. Er besteht aus hunderten Gelenken, Sensoren und Aktuatoren. Wenn ein solcher Roboter beim Abwasch Wasser in den Ellbogen bekommt, ist er Elektroschrott.
Die Tech-Giganten aus den USA können Software. Aber können sie Mechanik, die 20 Jahre hält? Thomsen bringt es auf den Punkt: «Das Allerschlimmste für einen neuen Roboterhersteller ist der Garantiefall.» Die Schweiz könnte zum globalen Zulieferer der Gelenke und Sinne dieser neuen Spezies werden. Präzision wird zur Überlebensstrategie in einer Welt aus billigem Plastik.
Strategie 2035: Die sieben Chancen für die Schweiz
Die technologischen Megatrends sind global. Doch wie kann sich die Schweiz in diesem Wettbewerb behaupten? Thomsen leitete in seinem Vortrag sieben spezifische Chancen ab. Sie gehen weit über das blosse Konsumieren von Technologie hinaus.
1. Engineering Excellence: Die Welt muss neu «engineert» werden. Das betrifft soziale Systeme ebenso wie Roboter. Die Schweiz kann mit ihrer Kombination aus Hochschulen und demokratischer Stabilität das globale Labor sein, in dem diese komplexen Systeme neu entworfen werden.
2. Der Energie-Hub: Die Geografie meint es gut mit der Schweiz. Sie liegt als Energiedrehscheibe zentral in Europa. Sie verfügt mit den Alpen über gigantische Speicherbatterien in Form von Pumpspeicherkraftwerken. Thomsen sieht hier die Chance, die Alpen als «grüne Batterie» und Datentresor für die energiehungrigen KI-Rechenzentren Europas zu positionieren.
3. Robotik-Zulieferer: Hier liegt die Nische für die Schweizer Feinmechanik. Der Wandel vom klassischen Maschinenbau zur Fertigung von High-End-Komponenten für die globale Robotik-Industrie ist logisch. Die Welt braucht Gelenke und Sensoren, die ewig halten.
4. Autonome Mobilität: Wir dürfen uns nicht darauf beschränken, autonome Fahrzeuge nur zu importieren. Die Schweiz sollte Software und Logistiklösungen für selbstfahrende Systeme entwickeln. Ein Beispiel ist der «rollende Pizzaofen», der die Pizza während der autonomen Fahrt backt.
5. Trusted Data Spaces: Wir erleben einen Verdrängungswettbewerb der grossen Hyperscaler um unsere Daten. Die Schweiz kann den Gegenentwurf bieten. Sie kann ein «Bankgeheimnis 2.0» für Daten schaffen. Das sind neutrale Zonen, in denen KI sicher und ohne Angst vor Ausspähung trainiert werden kann.
6. Augmented Engineers: Der Fachkräftemangel lässt sich nicht allein durch Zuwanderung lösen. Die Lösung liegt in der Produktivität. Thomsen schlägt eine KI-gestützte Verfünffachung der Leistung vor. Routineaufgaben gehen an die KI. Menschen konzentrieren sich auf kreative Problemlösung.
7. Ein neues Wohlstandsmodell: Abschliessend stellt Thomsen die Systemfrage. Müssen wir ewig quantitativ wachsen? «Ein Bierproduzent muss jedes Jahr 2 Prozent mehr Bier verkaufen», kritisiert er. Die Schweiz könnte Vorreiter für ein Modell sein, das auf qualitativem Wachstum basiert. Es entkoppelt Wohlstand vom Zwang zum immer höheren Ressourcenverbrauch.
Fazit: Mut zum Masterplan
Doch Technik ist nur die halbe Miete. Thomsen ist ein Hamburger, der zum Schweizer wurde. Er hält dem Land den Spiegel vor. Das Medianalter des Schweizer Wählers liegt bei 57 Jahren. Es steigt jedes Jahr um fünf Monate. Eine Gerontokratie neigt dazu, den Status quo zu verwalten. Sie vergisst oft, die Zukunft zu bauen. China plant in Fünfjahreszyklen die Marktführerschaft in der Robotik. Die Schweiz diskutiert über Besitzstandswahrung.
Der «Popcorn-Effekt» wartet nicht auf politische Mehrheiten. Wenn es ploppt, ist es zu spät, den Deckel zu suchen. Die Schweiz hat die Ingenieure. Sie hat das Kapital und die Energie. Sie muss die Hitze nur nutzen. Sie braucht wieder den Mut, den sie hatte, als sie Tunnel durch massive Alpenmassive bohrte. Die Zeit der linearen Extrapolation ist vorbei. Willkommen in der exponentiellen Dekade.
Impressum
Text: Eugen Albisser
Bild: Eugen Albisser
Redaktionelle Bearbeitung: Technik und Wissen
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