«Advance umfasst derzeit über 110 Unternehmensmitglieder, die sich Gender Equality auf die Fahne geschrieben haben und sich aktiv darum bemühen, mehr Frauen in ihren Führungsgremien zu haben. Warum? Weil Geschlechter-Diversität erwiesenermassen zu besseren Entscheidungen führt, den Markt angemessener reflektiert und Innovation antreibt.» (Auszug aus der Website www.weadvance.ch)
«Es braucht dringend institutionelle Veränderungen»
Gender und Diversity in MINT-Fächern und Berufen
«Es braucht dringend institutionelle Veränderungen»
Gender und Diversity in MINT-Fächern und Berufen
Frauen sind in MINT-Berufen untervertreten. Nicht einmal Absolventinnen des Ingenieurstudiums bleiben lange im Beruf. Was ist da los und was müsste sich ändern? Wir haben mit Dr. Marina de Queiroz Tavares geredet. Sie ist Dozentin am Zentrum für Signalverarbeitung und Nachrichtentechnik an der ZHAW und die Diversity-Beauftragte der Hochschule.
Es ist ein Generationenprojekt. Frauen in Technikberufe zu bringen, das gelingt nicht mit einem einjährigen Projekt, sondern über viele Jahre hinweg und alle müssen mitwirken: Schulen, Firmen, Organisationen und schlussendlich die Gesellschaft selbst, welche allesamt am Abbau vorhandener Stereotypen mitarbeiten und neue Wege schaffen müssen, um eine Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit herzustellen.
Frau Dr. de Queiroz Tavares, welches Phänomen illustriert für Sie am deutlichsten, dass da überhaupt ein Diversity-Problem in MINT-Fächern und -Berufen vorhanden ist?
Man spricht oft vom «Leaky Pipeline»-Phänomen, einem abnehmenden Frauenanteil und dass dieses Phänomen bei den MINT-Fächern ab etwa zwölf Jahren einsetzt. Oder anders gesagt: Bis zu diesem Alter muss etwas in Gang gesetzt werden, um das Interesse zu fördern. In ganz Europa gibt es viele Projekte, die diesem «Leaky Pipeline»-Phänomen entgegentreten. In Europa bereits seit etwa 30 Jahren, in der Schweiz wird es intensiver angegangen seit etwa 2010. Aber es gibt ein weiteres Phänomen, das ebenso interessant ist: das «Leaky Bucket»-Phänomen.
Das «Leaky Bucket»-Phänomen und die Macho-Kulturen
Das «Leaky Bucket»-Phänomen?
Es zeigt sich, dass selbst jene Frauen, die ein MINT-Studium abschliessen, sich sehr schnell aus den MINT-Berufen verabschieden. Die Zahlen sind bemerkenswert. Eine Studie aus dem Bereich IT in der EU zeigt, dass von 100 Frauen, die nach einem Studium in einen MINT-Beruf einsteigen, im Alter von 30 Jahren nur noch 20 in der Branche arbeiten und mit 45 Jahren nur noch 9! Diese Tatsache wird erst seit ein paar Jahren intensiver angegangen.
Was ist der Grund für das Auftreten dieses «Leaky Bucket»-Phänomens?
Fast ein Drittel der Absolventinnen eines Ingenieurstudiums beginnen gar nicht als Ingenieurinnen zu arbeiten. Die Familienplanung ist mit 2,8 Prozent der Abgänge aber bei weitem nicht der Hauptgrund. Der grosse Rest ist die Konsequenz von sozialen Vorurteilen. Studien konnten auch aufzeigen, dass über die Hälfte der weiblichen Angestellten ihren Job aufgrund von Macho-Kulturen beenden. Dazu gehören vor allem auch sexuelle Anspielungen. Ausserdem müssen Frauen in MINT-Fächern ihre Kompetenz viel mehr beweisen, um anerkannt zu werden. In dieser Beziehung braucht es also dringend institutionelle Veränderungen vonseiten der Arbeitgeber, damit sich diese Situation ändert.
Es scheint, als ob da noch viele Aufgaben betreffend Gender- und Diversitykompetenz auf Firmen, Organisationen, Schulen und überhaupt auf die Gesellschaft warten. Wie sieht es eigentlich bei der ZHAW aus? Sie sind ja nicht nur die Diversity-Beauftragte der ZHAW, sondern Dozentin am Zentrum für Signalverarbeitung und Nachrichtentechnik und waren vor ein paar Jahren noch die einzige Dozentin und unterrichten vor allem Männer. Hat sich das inzwischen geändert?
Nein, aber ich hoffe, dass ich in ein paar Jahren auf das Jahr 2020 zurückblicken und sagen kann: Das war ein Wendepunkt. Denn wir haben im vergangenen Jahr einen Katalog an Massnahmen zur Verbesserung der Gender-Gleichheit verabschiedet und sind jetzt an deren Umsetzung. Und interessanterweise passierten auch die gleichen Diskussionen auf der Rektoratsebene.
Organisationen, die Gender-Gleichheit fördern
Wie packt man solche Massnahmen an? Für viele Firmen wären Vorgaben oder Hilfe von aussen sicher nicht schlecht. Gibt es Organisationen, die weiterhelfen und einem da Unterstützung bieten?
Ja, es gibt mehrere Organisationen. Wir sind zum Beispiel Mitglied geworden bei Advance, die Gender-Gleichheit fördert. Man kann dort Mitglied werden, allerdings nur, wenn sich das Management zum Thema bekennt.
Wer ist Advance?
Wir haben über das «Leaky Pipeline»-Phänomen gesprochen. Welche Ansätze sind vielversprechend, um Mädchen und Frauen sehr früh für MINT-Fächer zu begeistern?
Ich finde zwei Ansätze sehr interessant. MINT heisst auf Englisch STEM und da kann man noch ein A hinzufügen, das steht dann für Art. Dann heisst es STEAM. Auf Deutsch nennen wir es einfach MINT+K, wobei das K für Kreation und Konstruktion steht und bedeutet, dass alles eine gestalterische Seite haben muss. Denn Studien zeigen, dass Mädchen viel engagierter sind, wenn die gestalterische Seite auch vorhanden ist und wenn sie multidisziplinär arbeiten können.
Und was ist der zweite Ansatz?
Dieser betrifft die weiblichen Lehrpersonen, die Rollenmodelle sein müssen. Ein Beispiel: Wir müssen Kindergarten- und Primarschule-Lehrerinnen auch dazu bringen, dass sie mit Kindern zusammen einen Roboter bauen und programmieren. Dann sehen die Kinder, dass eine Frau ihnen zeigt, wie man Roboter programmieren kann. So lösen sich mit der Zeit auch die stark verankerten Stereotypen auf, die noch immer ein Hindernis sind, um Mädchen für MINT-Fächer zu begeistern und die bekanntlich auch danach noch so stark sind, dass sich Frauen in MINT-Berufen deutlich mehr beweisen müssen.
Das könnte Sie auch interessieren
NACHWUCHSMANGEL IN MINT-BERUFEN:
URSACHEN UND LÖSUNGEN
Trendbericht inklusive einer Auflistung von Anlaufstellen und Projekten zum Thema Nachwuchsförderung im MINT-Bereich
«Mädchen unter 12 Jahren sind durchaus für Technik zu begeistern»
Solche Veränderungen dauern, bis sie greifen. Man könnte einfachheitshalber eine Quotenregelung einführen. Was halten Sie davon?
Das kann teilweise funktionieren. Wir haben auch schon eine Quotenregelung eingeführt bei einem Angebot für Kinder. Es ist ein Ferienplausch «Faszination Technik», an dem wir jedes Jahr drei Tage anbieten mit verschieden technischen und gestalterischen Workshops. Die Kinder lernen zum Beispiel eine App zu programmieren, ein Spielbrett mit Microcontroller und LED selbst zu bauen und zu programmieren. Oder sie experimentieren, wie man erneuerbare Energie produziert und speichert, eine Powerbank aus dem 3D-Drucker baut und einen solarbetriebenen Mini-Roboter konstruiert. Zuerst führten wir diesen Anlass für Kinder von elf bis vierzehn Jahren durch und ihn dann erweiterten für Kinder von acht bis zehn Jahren. Wir ahnten, dass sich da viel mehr Jungs einschreiben würden und die Plätze dann sofort weg wären. Aber wir wollten mehr Mädchen, also mussten wir über die Quotenregelung arbeiten.
Und das hat funktioniert?
Die Einschreibung für die Jungs war tatsächlich innerhalb einer Woche voll. Bei den Mädchen dauerte es länger, aber wir hatten keine freien Plätze mehr. Und bereits vorletztes Jahr, als wir die jüngere Gruppe einführten, da war die Liste mit den Mädchen früher voll als jene der Jungs. Das zeigt eben auch das andere Phänomen: Mädchen unter 12 Jahren sind durchaus für Technik zu begeistern und da müssen wir dringend anpacken. Wie bereits gesagt, laufen da auch viele Projekte. Bei uns zum Beispiel die Kinderuniversität, der MINT-Club oder anderswo das «Haus der kleinen Forscher» und unzählige mehr.
Also spricht dies für die Einführung einer Quotenregelung?
Ich bin sehr vorsichtig mit Quoten, sie muss immer auch im grösseren Kontext überdacht werden. Ausserdem ist mir bewusst, dass die Auseinandersetzung mit dem Thema «Diversity» nicht über Nacht gelingt, sondern dass wir geduldig sein müssen. Ich ziehe daher eine proaktive Herangehensweise vor und würde lieber statt einer Quote andere Fächer in der Schule sehen. Warum nicht mal eine Programmiersprache, wie zum Beispiel Python oder Java, als alltägliche und nützliche Sprache-Kenntnisse betrachten und dieser genug Gewicht geben im Vergleich mit veralteten Sprachen?
Menschen sollen eine aktiver Rolle einzunehmen gegenüber Technologien
Gibt es Länder, bei denen das Diversity-Problem weniger stark ausgeprägt ist?
Südkorea ist besonders beeindruckend. Allein schon die Tatsache, dass in fast allen Ländern der Welt die Sozialberufe am gefragtesten sind bei einem Studium, ist dies in Südkorea nicht der Fall: Dort wollen die meisten ein Ingenieur*innen-Studium beginnen. Man hat es also in Südkorea geschafft, einen institutionellen Rahmen herzustellen, dass sich sehr viele Menschen für MINT-Berufe begeistern und das betrifft auch die Frauen.
Kann die Schweiz von Südkorea etwas kopieren?
Die Beispiele von anderen Ländern sind eher anekdotischer Natur, denn kopieren lassen sich die Rezepte nicht so einfach. Aber gerade in Südkorea ist es gelungen, dass die Menschen anders denken über Technologien. Was wir neben den Vorurteilen gegenüber Gender auch verbreiten müssen: Die Einstellung, dass Technologien allgegenwärtig sind in unserem modernen Leben und es zu unseren Pflichten als Pädagog*innen gehört, Kinder und Jugendliche dazu anzuhalten, eine aktive Rolle einzunehmen – als Designer*innen und Entwickler*innen von Technologie – und nicht einfach nur passive Konsument*innen zu sein.
Wie könnte man diese aktive Rolle dann noch verstärken?
Das gelingt sehr gut mit der intrinsischen Motivation. Intrinsisch motivierte Menschen wollen eine Sache von sich aus tun, weil sie einen Sinn dahinter sehen. Hier eigenen sich zum Beispiel die Themen rund um die Nachhaltigkeit besonders gut, um die junge Generation – und viele Mädchen – für Technik zu begeistern. Diese Themen interessieren und können dazu motivieren, darüber nachzudenken, wie diese Herausforderungen mit neuen Technologien gelöst werden kann.
Impressum
Autor: Eugen Albisser
Bildquelle: ZHAW
Publiziert von Technik und Wissen
Informationen
ZHAW
zhaw.ch
ZHAW Creative Commons Material for Schoolteachers
https://code4you.ch/
MINT-Laufbahnplanung
steppinginto.ch
Weitere Artikel
Veröffentlicht am: