
Künstliche Intelligenz und Quantencomputing stehen vor dem Eintritt in die Praxis – nicht als Zukunftsvision, sondern als Instrumente mit disruptivem Potenzial für die pharmazeutische Forschung. Ein Einblick in das Spannungsfeld zwischen Ambition, Anwendung und Realität gab es am SATW-Jahreskongress in Muttenz.
Text und Bilder: Eugen Albisser, Chefredaktor Digital
Als Alessandro Curioni, Direktor von IBM Research Europa, auf die Bühne an der FHNW in Muttenz tritt, hat er keinen Zweifel: «Wir stehen an der Schwelle einer weiteren grossen Computerrevolution», sagt er. Was er meint: Nach der Erfindung des Transistors und dem Aufstieg des Internets formieren sich mit KI und Quantencomputing zwei Technologien, die gemeinsam eine neue Ära einläuten – mit gravierenden Folgen, auch für die Pharmaindustrie.
Doch die Begeisterung ist nicht ungeteilt. Nur wenig später widerspricht Annalisa Pawlosky von Google Quantum AI Research – sanft, aber bestimmt. «Quantum ist nicht wie Salz, das man überall einsetzt», sagt sie. «Es ist eher wie Trüffelöl – selten, punktuell, aber wertvoll.» Ihre Botschaft: Die Anwendungen sind spezifisch, die Herausforderungen gross – und das Versprechen noch nicht eingelöst.
Simulationen, die bisher unmöglich waren
Worin genau liegt das Potenzial? Curioni liefert Beispiele: Molekulardynamik, Proteinbindung, Supramolekül-Wechselwirkungen. Alles Dinge, bei denen klassische Computer schnell an ihre Grenzen stossen – weil die zu berechnenden Zustandsräume exponentiell wachsen. Ein Beispiel aus der Praxis: Die Simulation eines Eisen-Schwefel-Clusters mit 36 Orbitalen wäre mit herkömmlicher Hardware unlösbar. Mit einem optimierten hybriden Ansatz – klassisch und quantenbasiert kombiniert – benötigt IBM laut eigenen Angaben nur zwei Stunden Rechenzeit.
Doch es geht nicht nur um Geschwindigkeit. Quantencomputer verändern die Art, wie Informationen verarbeitet werden. Sie arbeiten nicht mehr nur mit Bits, sondern mit Qubits – die nicht nur 0 oder 1 sein können, sondern überlagert, miteinander verschränkt, offen für Interferenzen. Dadurch lassen sich Probleme ganz neu darstellen, etwa globale Optimierungen oder hochkomplexe Molekülinteraktionen – ein Gamechanger für die Wirkstoffentwicklung.

Roadmaps: Zwischen Hoffnung und Hardware
Die beiden Tech-Giganten Google und IBM verfolgen dabei unterschiedliche Strategien. IBM setzt auf modulare Architekturen («Heron», «Flamingo», «Blue Jay»), kombiniert mit Algorithmen, die auch mit fehlerbehafteter Hardware Fortschritte erlauben. Ziel: konkrete Anwendungen in naher Zukunft.
Google dagegen denkt grösser – mit dem langfristigen Ziel eines fehlertoleranten Quantencomputers mit einer Million Qubits. Der Weg dorthin ist lang. Aktuell befindet sich das Unternehmen beim Meilenstein M3: einem einzigen, langlebigen logischen Qubit. «Wir brauchen mehr als nur Prototypen», sagt Pawlosky. «Wir müssen zeigen, dass echte Anwendungen möglich sind.»
Einblicke aus China: Aufholjagd mit Satelliten
Ein aussergewöhnlicher Beitrag kommt per Liveschaltung aus China. Jian-Wei Pan, Pionier der Quantenkommunikation und oft als «Vater des chinesischen Quantenprogramms» bezeichnet, zeigt, was auf der anderen Seite der Welt geschieht. Mit dem Start des Satelliten «Micius» und der Entwicklung verteilter Quantenkommunikationsnetze über Hunderte Kilometer hinweg ist China heute technologisch führend – zumindest in der Infrastruktur.
Doch auch Pan mahnt zur Geduld. Ein praktischer Quantenrepeater, nötig für globale Netze, sei noch mindestens zehn Jahre entfernt. Und ein universeller Quantencomputer? Noch länger. Der Weg sei klar, aber steinig. «Es braucht Etappensiege», so Pan – etwa die effiziente Simulation von Quantenmaterialien oder Fortschritte in der Fehlerkorrektur.

Die Schweiz im Diskurs: Ein Roundtable im Zeichen der Souveränität
Beim abschliessenden Roundtable wird es politisch. Professor Benoît Dubuis moderiert die Diskussion mit Vertreterinnen und Vertretern von Swiss Quantum Initiative, FHNW, quantumBasel und Google. Es geht um Standortfragen, Ausbildung, aber auch um Souveränität: Welche Rolle will die Schweiz in einem Feld spielen, das von China und den USA dominiert wird?
Frederik Flöther (quantumBasel) fordert mehr mutige Pilotprojekte – gerade im Gesundheitswesen. Andreas Masuhr von der Swiss Quantum Initiative betont, dass «Vertrauen in Schweizer Technologien auch Vertrauen in Schweizer Werte» bedeutet – und dass dies gezielt gefördert werden müsse.
Fazit: Die Zukunft beginnt jetzt – aber sie braucht Geduld
Der SATW-Kongress zeigt: Quantencomputing ist mehr als ein Hype, aber weniger als ein Heilsversprechen. Die Grundlagen sind gelegt, erste Anwendungen sichtbar. Doch bis zur breiten industriellen Relevanz sind noch viele Probleme zu lösen: bei der Hardware, bei den Algorithmen, bei der Integration in bestehende Prozesse.
Was bleibt, ist ein Momentum – getragen von wissenschaftlicher Neugier, wirtschaftlichem Interesse und politischem Gestaltungswillen. Die Schweiz, klein aber forschungsstark, kann dabei mehr als Zuschauerin sein. Doch das Fenster, um mitzugestalten, ist offen – aber nicht unbegrenzt.
Fünf Erkenntnisse von den drei Keynotes und der Paneldiskussion
- Quantencomputer sind keine Allzwecklösung.
Ihre Stärken liegen in spezifischen Anwendungen wie Molekülsimulationen, Optimierungsproblemen oder Materialsynthese – nicht im Ersatz klassischer Computer. - Pharma zählt zu den First Movern.
Von Proteinbindung bis Enzymmechanismen: Die Life-Sciences-Industrie ist besonders aktiv in der Entwicklung quantengestützter Verfahren. - Hardware und Algorithmen müssen gemeinsam wachsen.
Ob IBM oder Google – alle Akteure betonen: Ohne Fortschritte bei der Fehlerkorrektur und Algorithmuseffizienz bleibt das Potenzial theoretisch. - China setzt auf Infrastruktur, der Westen auf Anwendungen.
Während Europa und USA auf industrielle Use Cases fokussieren, verfolgt China den Ausbau von Quantenkommunikationsnetzen mit Satelliten und Repeatern. - Die Schweiz will mehr als nur zuschauen.
Mit Initiativen wie quantumBasel und der Swiss Quantum Initiative positioniert sich der Standort als neutraler Brückenbauer im globalen Wettlauf – offen für Forschung, souverän in der Infrastruktur.
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Textquelle: Eugen Albisser
Bildquelle: Eugen Albisser
Redaktionelle Bearbeitung: Technik und Wissen
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