
Sind Schaltschränke heutzutage überhaupt noch erforderlich und welche Vorzüge ergeben sich für den Anwender, wenn er die Intelligenz seiner Prozesse ins Feld verlagert? Im Gespräch mit vier Automationsexperten über Sinn und Nutzen dezentraler IO-Konzepte.
«Dezentrale IO-Konzepte erlauben flexible Anpassungen»
Name: Roland Fuchs
Firma: Bachofen AG
Funktion: Produktmanager
E-Mail: roland.fuchs@bachofen.ch

Wann sind dezentrale IO-Konzepte der konventionellen Technik mit Schaltschrank vorzuziehen?
Dezentrale IO-Konzepte bieten in vielen Anwendungsfällen Vorteile gegenüber der konventionellen Technik mit zentralen Schaltschränken, wie etwa Effizienz, Flexibilität, weniger Verdrahtungsaufwand oder bessere Verfügbarkeit. Insgesamt liegt das grösste Potenzial darin, mit dezentralen Konzepten zu standardisieren, um für die Anlagenplanung ein Baukastensystem zu erstellen und damit die Time to Market für ganze Anlagen oder Teile davon zu verkürzen.
Dezentrale Lösungen erlauben auch flexiblere Anpassungen an sich ändernde Anforderungen. Unternehmen können auf Veränderungen und individuelle Kundenwünsche schneller reagieren und ihre Systeme besser skalieren. Da dezentrale Konzepte die I/O-Anschlüsse ins direkte Maschinenumfeld verlagern, wird der Verdrahtungsaufwand reduziert und die Länge von Sensor- und Aktor-Leitungen auf ein Minimum reduziert. Das spart teures Kupfer und Arbeitsstunden. Werden fertig konfektionierte Kabel eingesetzt, die in der Herstellung zu einhundert Prozent geprüft wurden, sinkt zudem das Risiko von Verdrahtungsfehlern deutlich.
Trotz aller Vorteile kann dezentrale Automation nicht in allen Fällen Schaltschränke ersetzen, denn es geht immer um die Art von Maschinen und Anlagen. Kleine, integrierte Maschinen profitieren in den meisten Fällen weiterhin von IP20-Geräten für den Schaltschrank.
Wie verändern sich Instandhaltung/Service bei dezentralen IO-Konzepten?
Dezentrale I/O-Konzepte beeinflussen die Instandhaltung und den Service in mehreren Aspekten positiv. Zum einen profitieren Anwender von schnellerer Fehlerbehebung, denn Diagnosefunktionen ermöglichen eine präzise Lokalisierung von Fehlern vor Ort. Instandhaltungsteams können gezielt eingreifen und die Ausfallzeit minimieren oder sogar schon aktiv werden, bevor ein Ausfall eintritt. Diagnosedaten können ausserdem für spätere Analysen und Verbesserungen genutzt werden. Das hilft, langfristig die Anlagenleistung zu optimieren.
Auf was ist zu achten, damit sich ein dezentrales IO-Konzept möglichst reibungslos in eine bestehende SPS-Umgebung integrieren lässt?
Natürlich muss das von der Steuerung verwendete Bussystem unterstützt werden. Hier punkten beispielsweise die Geräte von Turck mit ihrer Multiprotokoll-Fähigkeit. Sie sind wahre Sprachtalente und unterstützen Profinet, EthernetIP und Modbus TCP in ein und demselben Gerät. Das vereinfacht die Lagerhaltung bei Herstellern, die ihre Kunden mit Steuerungen nach deren Vorgabe beliefern, aber auch Anwender, die verschiedene Steuerungen in ihren Maschinen und Anlagen haben.
Kleinere modulare Einheiten können einfacher und schneller autonom getestet werden. Mit klar definierten Schnittstellen gelingt anschliessend auch die schnelle Inbetriebnahme der gesamten Maschine oder Anlage.
Wie lässt sich sicherstellen, dass ein dezentrales IO-Konzept mit den wachsenden Bedürfnissen eines Unternehmens skaliert?
Hier ist es wichtig, regelmässige Evaluierungen und Anpassungen vorzunehmen. Die in IP67 ausgeführten dezentralen I/O-Blockmodule von Turck beispielsweise können ohne Schaltschrank direkt an der Maschine angebracht werden, wo sie den grössten Nutzen erbringen, weil sie die Verdrahtung verkürzen. Das gilt auch für mögliche Erweiterungen. Zudem bieten deren über Ethernet-Protokoll kommunizierenden dezentralen I/O-Module zwei Ethernet-Anschlüsse, um Linien- und Ring-Strukturen einfach umzusetzen. Darum kann bei einer Erweiterung ein neuer Teilnehmer sehr einfach in schon bestehende Infrastrukturen eingebunden werden.
Welche Unterstützung bieten Sie bei der Integration und der laufenden Wartung?
Die Turck Automation Suite TAS unterstützt Anwender beim Management und der Konfiguration von Turck-Geräten in industriellen Ethernet-Netzwerken, wo sie die Konfiguration und Adressierung der Geräte vereinfacht. Insbesondere die Batch-Funktionen beschleunigen viele Aktionen, da sie gleichzeitig für mehrere Netzwerkgeräte ausgeführt werden können. So kann beispielsweise über die Stapel-Bearbeitung viel Zeit gespart werden bei Firmware-Updates, der Vergabe von IP-Adressen oder selbst bei der Verwaltung von Codesys-Programmen. Das neueste Update TAS Cloud bietet darüber hinaus die Möglichkeit, Maschinen- und Anlagen aus der Ferne zu warten und zu überwachen.
«Dezentrale IO-Konzepte vereinfachen die Fehlersuche»
Name: Christian Vierthaler
Firma: Siemens Schweiz AG
Funktion: Regional Product Manager
E-Mail: christian.vierthaler@siemens.com

Wann sind dezentrale IO-Konzepte der konventionellen Technik mit Schaltschrank vorzuziehen?
Dezentrale IO-Konzepte sind insbesondere für modulare Maschinen interessant, bei denen die eingesetzte Peripherie in den optionalen Modulen zugeordnet ist und physisch dort aufgebaut wird. Der Vorteil dieses Ansatzes ist, dass Module vorverdrahtet werden können und beim Zusammenbau der Optionen Bus- und Energieleitung nur noch mit genormten Schraubsteckern angeschlossen werden müssen.
Wie verändern sich Instandhaltung/Service bei dezentralen IO-Konzepten?
Das sind zunächst einmal die kürzeren Leitungen, welche die Suche von Fehlern in der Verkabelung vereinfachen und einen Austausch bei Beschädigungen erleichtern, da keine Umverdrahtungen im Schaltschrank vorzunehmen sind. Dies vermeidet auch Verdrahtungsfehler. Zudem vereinfachen Diagnose-LED an der Peripherie die Überwachung laufender Maschinen und Anlagen.
Auf was ist zu achten, damit sich ein dezentrales IO-Konzept möglichst reibungslos in eine bestehende SPS-Umgebung integrieren lässt?
Die Voraussetzung dafür ist die Nutzung eines standardisierten Bussystems wie beispielsweise Profinet oder Modbus TCP. Mit Ethernet IP lassen sich ausserdem Fremdsysteme gut an die Steuerung anbinden. Bei einem redundanten Aufbau des Kommunikationsbusses empfiehlt sich zudem die Nutzung von Standards wie zum Beispiel Profisafe. Bei der Integration sollte zudem darauf geachtet werden, dass dieses in ein bestehendes Diagnose-Konzept integriert wird.
Wie lässt sich sicherstellen, dass ein dezentrales IO-Konzept mit den wachsenden Bedürfnissen eines Unternehmens skaliert?
Siemens führt hierfür Modul-Familien für die unterschiedlichen Anforderungen. Diese stellen alle benötigten IO-Signale inklusiv Failsafe bereit.
Welche Unterstützung bieten Sie bei der Integration und der laufenden Wartung?
Wichtigstes Werkzeug ist das TIA Selection Tool, das bei der Konfiguration der notwendigen Module und Leitungen unterstützt. Für den IO-Test bieten wir die Software Proneta an.
«Dezentrale IO-Konzepte verkürzen Stillstandzeiten erheblich»
Name: Eberhard Klotz
Firma: Festo SE & Co. KG
Funktion: Global Sales Director Industry 4.0/Digitalization
E-Mail: eberhard.klotz@festo.com

Wann sind dezentrale IO-Konzepte der konventionellen Technik mit Schaltschrank vorzuziehen?
Wenn durch die dezentrale Installation massgebliche Vorteile entstehen wie einfache und klare Funktionszuordnung, leichtere Instandhaltung, schnellere oder modularere Installation oder im Falle von pneumatischen IO-Anwendungen vor allem schnellere und energiesparende Bewegungsabläufe. Betrachtet man die TCO, sind dezentrale Konzepte oftmals auch monetär im Vorteil, weil die Hardwarekosten eben nicht alles sind..
Wie verändern sich Instandhaltung/Service bei dezentralen IO-Konzepten?
Dezentrale Konzepte sind zuerst leichter zugänglich und beispielsweise durch Diagnose-LED sofort vor Ort ablesbar. Bei guten Maschinendesigns sind die Funktionsgruppen klar zugeordnet. Das verkürzt Stillstände und Reparaturzeiten erheblich. Alle feldbusfähigen IO-Systeme bieten darüber hinaus umfassende Diagnosefunktionen an, so dass ein intelligentes Wartungsmanagement möglich ist. Dank kurzer Kabel-/Leistungswege gelingt ein Austausch defekter Sensoren oder Module in der Regel deutlich schneller als bei der Schaltschranklösung – was wiederum OEE und TPM-Kennzahlen verbessert.
Auf was ist zu achten, damit sich ein dezentrales IO-Konzept möglichst reibungslos in eine bestehende SPS-Umgebung integrieren lässt?
Die erste Basis ist eine rein handwerkliche: Saubere Beschriftungen und Zuordnungen der IO-Module im Maschinendesign. Eine SPS-Integration gelingt dann reibungslos, wenn die IO-Komponenten feldbusfähig sind, gegebenenfalls mit untergeordnetem Bus, und im Rahmen der seamless connectivity sich sowohl die Hardware als auch Software an die gewählte SPS anpassen. Unsere Komponenten verhalten sich hier immer wie das jeweilige Host-System und verfügen daher über eine echte nahtlose Integration. Noch einfacher wird es, wenn die Automatisierungslösung aus einer Hand bezogen wird: Dann sind auch Plug-and-work-Konzepte möglich.
Wie lässt sich sicherstellen, dass ein dezentrales IO-Konzept mit den wachsenden Bedürfnissen eines Unternehmens skaliert?
Das IO-Konzept unserer CPX-Familie und aller Ventilinseln beispielsweise passt sich in mehreren Dimensionen den wachsenden Bedürfnissen der Kunden an: Zuerst sind die dezentralen Festo-Systeme unabhängig von der SPS, können also an mehrere Host-Systeme adaptiert werden. Zweitens: Eine bestehende Installation kann immer nachträglich um IO-Module, Sonderfunktionen oder Ventilinseln erweitert werden. Drittens sind IO an den Ventilinseln modular aufgebaut und lassen sich nachträglich ebenfalls ändern/erweitern. Viertens entwickeln und fertigen wir unsere IO-Systeme selbst und rüsten sie mit eigenen ASIC aus, so dass eine langjährige Verfügbarkeit sichergestellt ist.
Welche Unterstützung bieten Sie bei der Integration und der laufenden Wartung?
Festo Remote IO und Ventilinseln sind ab Werk einhundert Prozent getestet und sofort einsatzbereit. Für individuelle Anpassungen können sie mit der Festo Automation Suite ausgelegt, konfiguriert und parametriert werden. Dies gelingt aber auch im Rahmen der seamless connectivity auch in Drittsystemen direkt von der SPS. Alle Produkte sind im digitalen Computerized Maintenance Management System) bereits integriert, so dass Wartungs- und Reparaturaufträge in digitalen Workflows abgebildet werden können.
«Dezentrale IO-Konzepte erhöhen den Stellenwert der Busdiagnose»
Name: Tobias Bachmann
Firma: Beckhoff Automation AG
Funktion: Leitung Technik Schweiz
E-Mail: t.bachmann@beckhoff.ch

Wann sind dezentrale IO-Konzepte der konventionellen Technik mit Schaltschrank vorzuziehen?
Das hängt vom jeweiligen Maschinen- beziehungsweise Anlagenkonzept und dessen Ausdehnung ab. Bei einem modularen Design oder wenn für den Anlagenversand zerlegt werden muss, ist eine Reduktion von Verbindungsleitungen sehr vorteilhaft. Bezüglich der Modularität eröffnet zum Beispiel unser MX-System nochmals komplett neue Möglichkeiten, denn als steckbare Lösung für schaltschranklose Automatisierung revolutioniert es das Prinzip des konventionellen Schaltschranks.
Wie verändern sich Instandhaltung/Service bei dezentralen IO-Konzepten?
Das Risiko eines nicht detektieren Drahtbruchs oder Kurzschlusses sinkt bei solchen dezentralen Konzepten deutlich, da die analogen Signale auf kürzeren Strecken verlegt sind. Gleichzeitig erhält die Busdiagnose einen höheren Stellenwert. Deshalb ist es vorteilhaft, wenn wie beispielsweise bei der «EtherCAT Diagnostics» von Beckhoff für die HMI detaillierte Kontrollmöglichkeiten zur Verfügung stehen.
Auf was ist zu achten, damit sich ein dezentrales IO-Konzept möglichst reibungslos in eine bestehende SPS-Umgebung integrieren lässt?
Entscheidend für die strategische Plattformausrichtung ist die Wahl eines offenen Bussystems mit flexibler Topologie. Hier kann EtherCAT in besonderem Mass punkten. Ob ein Teilnehmer direkt an der SPS angeschlossen ist, über eine Kupferleitung 300 m abgesetzt angebunden wird oder via Lichtwellenleiter in einem kilometerweit entfernten Anlagenteil montiert ist, spielt für die umfangreichen Funktionalitäten keine Rolle.
Wie lässt sich sicherstellen, dass ein dezentrales IO-Konzept mit den wachsenden Bedürfnissen eines Unternehmens skaliert?
Kennzahlen wie maximale Teilnehmerzahl und Bandbreite sollten mit dem Arbeitspunkt der Maschine beziehungsweise Anlage verglichen werden. Skalierungsoptionen, wie zum Beispiel von 100 Mbit auf 10 Gbit, sollten zur Verfügung stehen, um für zukünftige, zusätzliche Technologien und Datenströme gerüstet zu sein.
Welche Unterstützung bieten Sie bei der Integration und der laufenden Wartung?
Wir kennen durch unsere Erfahrung die Prozesse und Anforderungen unserer Kunden detailliert und können so genau für die jeweilige Applikation massgeschneiderte Lösungen vorschlagen. Hierfür steht ein modulares und fein skalierbares Produktportfolio von mehreren tausend Komponenten zur Verfügung. Bei der Wartung ist das Ziel die Selbstbefähigung des Kunden. Im Fall eines Maschinenstillstandes sollte der Kunde die Fehlerstelle mithilfe unserer Tools autonom bestimmen können, was diese durch ihre Leistungsfähigkeit und Benutzerfreundlichkeit fördern. Benötigt der Anwender hierbei Unterstützung, so sind wir weltweit über eine kostenfreie Hotline erreichbar oder helfen gegebenenfalls auch vor Ort.
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Impressum
Autor: Markus Back
Bildquelle: diverse
Redaktionelle Bearbeitung: Technik und Wissen
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