
Sie heissen Endress+Hauser, Urma und LNS – drei Industriebetriebe, drei Geschichten. Was sie verbindet: eine klare Haltung zur Digitalisierung. Was sie unterscheidet: der Weg dorthin.
Quelle: Vorträge Industrieforum 2025
Digitalisierung gehört längst zu jeder Unternehmensstrategie – gerade in der Industrie. Doch was auf PowerPoint-Folien gut aussieht, ist im Alltag oft eine Zumutung: zu wenig Zeit, zu viele Systeme, zu hohe Erwartungen. Und immer bleibt die Frage: Wie anfangen, ohne sich zu verzetteln?
Beim Industrieforum 2025 standen bei den Vorträgen rund um die «Digital Journey» keine Modelle oder Theorien im Zentrum, sondern echte Erfahrungen aus der Praxis. Drei Industrieunternehmen – Endress+Hauser Flowtec, Urma AG und LNS Management – erzählen, wie sie den Wandel wirklich angepackt haben. Was sie geplant hatten und was dann doch ganz anders kam. Wie sie mit Unsicherheit umgingen und welche Erkenntnisse sie erst unterwegs gewonnen haben.
Ihre Geschichten sind keine Heldenerzählungen, sondern ehrliche Berichte aus Werkhallen, Besprechungsräumen und Schulungssituationen. Sie zeigen, dass Digitalisierung nicht immer mit einem Masterplan beginnt, sondern mit Fragen. Und manchmal mit einer Spesen-App.
Endress+Hauser Flowtec: Digitalisierung als Lernreise

Als Vincenzo Maira von Endress+Hauser Flowtec seine Geschichte erzählt, beginnt er mit einem realistischen Bild: «Wir standen 2022 an einem Punkt, an dem uns Orientierung fehlte. Viel Unsicherheit, viele Fragen – wo stehen wir überhaupt mit Blick auf Digitalisierung in unserer Produktion?» Statt vorschnell zu handeln, setzte sein Team zuerst ein Zielbild auf. Digitalisierung sollte kein Selbstzweck sein, sondern Mehrwert schaffen – für Leistung, Qualität und die Beherrschung wachsender Komplexität.
Aus dieser Überlegung entstand gemeinsam mit Detecon ein Framework mit fünf Handlungsfeldern: von der Mitarbeitendenunterstützung über Prozesssteuerung und Datennutzung bis zur IT-Infrastruktur und Methodik. Um dieses Wissen im Unternehmen zu verankern, wurde ein einzigartiger Weg gewählt: Die Schulungen kamen nicht von aussen, sondern von den eigenen Fachleuten. Sie entwickelten Inhalte, hielten Masterclasses und erklärten ihren Kolleginnen und Kollegen, was Digitalisierung im eigenen Fachbereich bedeutet. «Es ging nicht darum, dass alle Fachexperten werden – sondern darum, dass alle verstehen, worum es geht.»
Zweimal wurde der digitale Reifegrad gemessen – zu Beginn und nach zwei Jahren. Die Resultate zeigen: Besonders in den Bereichen IT-Infrastruktur, Security und Data Analytics machte das Team deutliche Fortschritte. Gleichzeitig zeigte sich eine Lücke bei den Projektleitenden – sie waren weniger eingebunden als Fachkräfte oder Führungspersonen. «Ein Weckruf», wie Maira es nennt. Seither wird gezielt daran gearbeitet, auch die Umsetzungsverantwortlichen zu befähigen – mit Weiterbildungen, Dialogformaten und interner Vernetzung. Der Weg ist nicht abgeschlossen. Aber er ist sichtbar. Und das ist entscheidend.
Urma AG: Von der Reifegradmessung zur KI am Werkstück

Yannick Berner, Co-CEO der Urma AG, beschreibt den Startpunkt seiner Digitalreise mit entwaffnender Ehrlichkeit: «Wir dachten, wir seien weiter.» Die Reifegradmessung gemeinsam mit der Universität St. Gallen zeigte aber ein anderes Bild. Es folgte eine Bestandsaufnahme in allen Abteilungen, eine Bedarfsanalyse, ein Strategieworkshop und die Erkenntnis: Es fehlt nicht nur an Technik, sondern auch an Kapazität. Also wurde die IT neu aufgestellt, das Team erweitert und sogar agile Methoden eingeführt.
Digitalisierung wurde zudem zur Chefsache. Sie ist verankert in den Unternehmenszielen, im Budget und im Denken des Managements. Doch wie bringt man solche Projekte in einem KMU voran, ohne das Tagesgeschäft zu gefährden? Und wie nimmt man die Mitarbeitenden mit? Berner antwortete mit klarer Priorisierung, neuen Kommunikationsformen und einem besonderen Format: dem Hackathon. Zweimal im Jahr arbeitet ein Querschnitt aus der Belegschaft an konkreten Digitalideen. Dort entstehen Projekte mit echtem Praxisbezug – zum Beispiel der Einsatz von Microsoft Copilot im CRM oder in Office-Anwendungen.
Ein besonders tiefgreifendes Beispiel betrifft die Qualitätskontrolle. Urma stellt hochspezialisierte Reibwerkzeuge her, deren Schneidkanten bisher manuell geprüft wurden. Nun soll eine KI diese Arbeit unterstützen – präziser und skalierbar. Doch der Weg ist anspruchsvoll: Die Bauteile variieren stark, die Fehlerbilder ebenso. Erst mussten Fehler klassifiziert und gelabelt werden, dann wurde ein Algorithmus trainiert, später die Erkennung validiert. Und nicht zuletzt: Die Lösung muss industriell einsetzbar sein – mit Robotik, Greifern, Bildverarbeitung.
Hinzu kommt die emotionale Komponente. Die Mitarbeitenden, die bisher die Prüfung übernahmen, sollen nicht verdrängt, sondern entlastet werden. Transparenz ist hier zentral – genauso wie das klare Signal der Geschäftsleitung: «Wir brauchen diese Leute auch in Zukunft. Aber vielleicht für andere Aufgaben.»
Auch bei Urma zeigt sich ein Prinzip, das durch alle erfolgreichen Digitalinitiativen führt: Gute Daten, klares Commitment, geeignete Partner und ein Team, das KI nicht nur anwendet, sondern versteht.
LNS Management: Kultur, die mitwächst

Als Philipp Saurer bei LNS die Verantwortung für die digitale Transformation übernahm, war das Umfeld skeptisch. Digitalisierung in einem traditionsreichen Maschinenperipherie-Unternehmen? Viele ordneten ihn erst einmal der IT zu. «Die Leute kamen zu mir, wenn der Drucker nicht funktionierte», erzählt er mit einem Lächeln. Heute ist klar: Saurers Arbeit verändert nicht nur Prozesse – sie verändert die Organisation.
Sein erster Schritt war kein Leuchtturmprojekt, sondern eine Spesen-App. «Ein ideales Trainingsfeld», sagt er. «Man lernt, wie Menschen auf Veränderungen reagieren, wenn man ihnen das Excel wegnimmt.» Es war eine praktische Lektion in Nutzerakzeptanz – und die Grundlage für die drei Prinzipien, die seither alle Digitalprojekte bei LNS leiten:
- «Catch the low hanging fruits» – zuerst einfache, umsetzbare Projekte mit spürbarem Nutzen.
- «Work with a small budget» – kleine Budgets halten das Denken schlank und verhindern Selbstüberschätzung.
- «Make it simple and tangible» – Lösungen müssen im Alltag verständlich, erlebbar und nützlich sein.
Diese Haltung schützt auch vor falschem Aktionismus. Saurer spricht offen über den Druck, schnell etwas «für den Kunden» vorweisen zu wollen. «Ein schöner Webshop, der intern niemand nutzt, bringt nichts.» LNS investiert deshalb gezielt in interne Substanz: Softwarestrategie, klare Partnerwahl, Schulung – aber vor allem: Kommunikation.
Denn die eigentliche Herausforderung liegt nicht in der Technik, sondern im Verständnis. Digitalisierung wird nicht verordnet – sie muss erklärt, eingeübt, mitgetragen werden. Und das beginnt oft mit kleinen Projekten, klarer Sprache und offenem Dialog.
«Digitale Transformation ist kein Produkt. Sie ist ein Prozess», sagt Saurer. «Und der beginnt nicht mit Technologie, sondern mit einem Schritt, den alle mitgehen können.»
Fazit: Digitalisierung beginnt selten gross – aber immer irgendwo
Drei Unternehmen, drei Wege, ein gemeinsamer Nenner: Digitalisierung lässt sich nicht delegieren. Sie beginnt nicht mit einer Software, sondern mit einer Frage. Nicht mit einem KPI, sondern mit einem ehrlichen Blick auf das, was wirklich nötig – und was bereits möglich – ist.
Endress+Hauser zeigt, wie man aus Orientierungsverlust ein strukturiertes Lernsystem macht. Urma beweist, dass selbst hochspezialisierte Mittelständler KI nicht nur verstehen, sondern praktisch einsetzen können. Und LNS erinnert daran, dass man manchmal mit einer Spesen-App mehr bewirkt als mit einer Vision auf zehn Slides.
Wer heute über Digitalisierung in der Industrie spricht, spricht selten über Technik allein. Es geht um Entscheidungen, die nicht spektakulär, aber wirksam sind. Um Führung, die nicht alles weiss, aber fragt. Um Mitarbeitende, die nicht überredet, sondern befähigt werden. Und um Projekte, die lieber konkret als komplett sind.
Die drei Beispiele zeigen: Der erste Schritt muss nicht gross sein. Aber er muss gemacht werden – am besten mit Verstand, mit den richtigen Leuten, und manchmal auch mit der Demut, dass man den Weg beim Gehen erst kartiert.
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